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Familie

Seit Wochen habe ich danach gesucht, heute habe ich sie endlich gefunden: meine Oma. Das heißt eine stimmliche Aufzeichnung von ihr. Nachdem es im August schon fünf Jahre werden, wo sie nicht mehr unter uns weilt, habe ich mich einfach so sehr nach einem über die Erinnerung hinausgehenden Sinne ansprechenden Zeichen von ihr gesehnt, von dem ich wusste, dass es irgendwo in den Tiefen meines Sammelsuriums aus den 90er Jahren weilt.

Ja, damals besaß ich noch einen Anrufbeantworter, bei dem die Aufnahmen analog auf Compact Cassetten aufgezeichnet wurden. Und genau jene Kassetten, die mich phasenweise wieder in meine geliebte Studentenzeit katapultierten, habe ich seit Wochen durchforstet, um heute endlich auf „Gold“ zu stoßen. Der Anlass des Anrufes war eigentlich relativ banal – eine Einladung zum Geburtstagsessen meines Opas. Es gab schon so viele andere Hörerlebnisse, die mich rückwirkend gerührt haben, aber so überraschend die Stimme meiner Oma zu vernehmen, zog mir erstmal den Boden unter den Füßen weg, weil der Schmerz des Vermissens mit einem Mal so unglaublich viel intensiver war. Nahezu unwillkürlich fuhr meine Hand das Tapedeck entlang, so als ob ich damit den Zauber der Vergangenheit, den dieses Gerät offen legte, streicheln wollte.

All die Wochen des Suchens haben an diesem wunderbar sonnigen Tag heute ihren Höhepunkt gefunden. Das Geschenk im Herzen tragend weiß ich nun um die Quelle, an der ich mich künftig laben kann, wenn die Sehnsucht des Vermissens zu groß wird.

Ich sollte schlafen, aber ich kann nicht, da mich Familien-Angelegenheiten aufwühlen. Mein Bruder verliert - wie ich - vielleicht bald seinen Job. Meine Schwester wird von ihrem Ex-Mann (Scheidung war im Juni) über den Tisch gezogen. Die diesbezüglichen Details zu erläutern, würde zu weit gehen, außerdem weiß ich gar nicht, ob ich das sachlich noch richtig wiedergeben könnte. Fakt ist, dass sie unter anderem wegen eines Formfehlers, den ihre Anwältin auch schon eingestanden hat, absolut im Nachteil ist. Klar, es geht um Geld, aber nicht nur, auch um seine Rachsucht, wobei ich das nur von den Erzählungen meines Bruders und meiner Mutter weiß. Und dass meine Schwester deswegen psychisch auch angeschlagen, derzeit sogar krank geschrieben ist.

Man sollte mich so kurz vor dem Schlafengehen einfach nicht mit solch belastenden Informationen füttern, die mir jetzt bleischwer und krampfend im Magen liegen. Mir ist als müsste ich mich übergeben.

Ich hatte es an anderer Stelle schon ein paar Mal erwähnt. 2003 hatte meine Mutter Krebs. Seitdem habe ich immer Angst, dass dieser wiederkehren könnte, weshalb ich sie von allen negativen Gedanken zu verschonen beziehungsweise ihren trüben eine positive Sichtweise zu geben versuche, dabei sagte sie erst gestern, dass sie immer nur Hiobsbotschaften bekäme.

Dabei habe ich überhaupt nicht mehr die Kraft, so zu tun, als ob der Spruch „Immer wenn du glaubst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her“ aus meiner lebensbejahenden Feder käme. Ich halte mein eigenes Leben doch schon kaum aus.

Ich weiß, dass es albern klingt, aber gestern hatte ich auf Sieg gesetzt, was das Thema Lotto betrifft. 27 Millionen waren im Jackpot. Mit diesen (oder auch einem Teil davon) wären wir allesamt unabhängig. Ich hätte meinen Geschwistern und meinen Eltern soviel Geld geben können, dass sie zumindest finanziell keine Sorgen mehr die ihren nennen müssten, aber der Gewinn blieb leider aus.

Ich wünschte, ich könnte irgendwie helfen, aber ich kann nicht. Stattdessen kreieren meine Gedanken in jüngster Zeit manchmal Horrorszenarien und Bilder, die so lebhaft vor meinem Auge sind, dass ich Mühe habe, sie mit dem Verstand in Schach zu halten.

Wenn ich nur irgendwas tun könnte!

Meine Schwester tut mir so unendlich leid, weil sie nun mit all der Verantwortung, die gewöhnlich zwei Menschen teilen, Alleinerziehende ist und nicht das Geld (5.000 Euro) hat, die Anwältin zu bezahlen, obwohl sie einen Job hat. Meine Eltern deswegen, weil sie sich selbst nichts gönnen, um Geld für Unvorhergesehenes, wie zum Beispiel die Anwaltskosten meiner Schwester, zurückzulegen und zu bezahlen. Was die Kinder betrifft, ziehen sie zwar an einem Strang, ansonsten stehen sie aber definitiv nicht füreinander ein und leben – jeder für sich – ein trauriges wie trostloses Leben. Was wird aus unseren Leben? Wie soll meine Schwester gesundheitlich und finanziell wieder die Kurve kriegen, zumal sie nicht aus der Verantwortungspflicht für das Haus seitens der Banken genommen wurde – und das obwohl sie nicht mehr im Grundbuch steht. Wie soll sie wieder genesen? Was wird aus meinem Bruder, wenn er seinen Job verliert? Wird er das Haus für seine kleine Familie halten können? Und was ist mit meinen Eltern? Wie weit kommt jeder von ihnen mit seinen knapp 700 Euro Rente? Wie soll das denn alles weitergehen?

Und nicht zuletzt: was wird aus mir, wenn ich meinen Job verliere, wovon ich mehr oder minder ausgehe? Sind wir eine Versager-Familie?

Kurzer Nachtrag, nachdem die liebe Family jetzt weg ist. Der Kuchen war der Hit. Sowohl meine Ma, sie im Besonderen, mein Patenkind Alina, mein Bruder, der Pan und auch ich waren einhellig der Meinung, dass der fast ausnahmslos nur aus Streuseln bestehende Apfelkuchen (unter den Apfelschnitzen verteilte ich die eine Hälfte der Streusel, über den Schnitzen die andere, einen Teig als Grundlage gab es nicht, die Streusel waren quasi der Boden) vörzüglich mundete.

Wer hätte das gedacht? Ich würde es nicht sagen, wenn ich es anders empfände, aber der Kuchen war wirklich gut.

Manchmal nimmt sich das Glück tatsächlich eine kleine Auszeit, um bei mir zu weilen.

"Kuchen, was ist das?", wollte Fabi vorhin wissen. Gänzlich fasziniert saß er dann vorm Ofen.Für heute Nachmittag, das heißt in einer halben Stunde, hat sich mein Bruder und mein Patenkind zu Besuch angesagt. Wenn meine Schwägerin, die heute Nacht gearbeitet hat, nicht zu müde ist, wird sie ebenfalls mitkommen, genauso wie meine Mom. Da das Ganze jetzt doch ganz überraschend kam, bin ich ein wenig aufgeregt, weil ich selbst bei meiner Familie denke, dass sie irgendetwas nicht in Ordnung finden könnte, wenn sie mich bzw. uns, den Pan und mich, besuchen.

Mit Hilfe des Pans, der die Äpfel schälte und schnitzte, habe ich vorhin rasch einen Kuchen zusammengerührt, einen, den ich vorher noch nie gebacken habe. Eigentlich wollte ich das Rezept für den Pan und mich heute mal ausprobieren, jetzt muss die family als Versuchskaninchen herhalten, wobei ich am Hadern bin, ob ich nicht doch zur Sicherheit noch einfach schnell einen Strudel in die Röhre schieben soll – mit jenem ist man in unserer Familie immer auf der sicheren Seite. Puhhh, ich versuche die Aufregung unter Kontrolle zu halten. Fabi, unser neues Familienmitglied, kam vorhin kurz in die Küche und fragte, was denn da so lecker duften würde, worauf ich ihm mitteilte, dass das in der Röhre ein Kuchen für den Besuch nachher wird. Gänzlich beeindruckt wollte er sich den Prozess des Werdens auf keinen Fall entgehen lassen, weshalb er sich kurzerhand den Wasserkocher als Sitzplatz umfunktionierte, um gespannt vor dem Ofen sitzend auf das süße Wunder zu warten.

Liselle und TimDass mich diese Tage der Woche begleitende pseudonyme Geheimnis ist gelüftet – und ich bin wie eine von der Tarantel Gestochene meine Freude nicht anders Ausdruck verleihen Könnende wild durchs Büro gerast habe richtig vermutet: Wir haben Familienzuwachs bekommen, das heißt vielmehr Tim eine neue Freundin.

Liselle.

Ein wirklich zauberhaft anmutiges Geschöpf, das derzeit mit Tim im Wohnzimmer die ersten Bande einer – und hier bin ich mir sicher – wunderbaren Freundschaft schließt, wenngleich derzeit beide noch etwas verschüchtert sind, aber Rom wurde bekanntermaßen auch nicht an einem Tag erbaut, und eilig haben es die beiden sich einander Wohlwollenden ja zudem nicht.

Kalt, aufwühlend und traurig, so lässt sich in drei kurzen Worten die heutige Beerdigung meines Opas beschreiben. Ich hatte mit mir gehadert, ob ich ihn mir noch einmal aufgebart ansehen soll, war dann aber wohl doch zu neugierig - anders kann ich es nicht bezeichnen -, weil ich wissen wollte, wie er in seiner Wanderkluft aussieht. Davon abgesehen hatte ich ihn zuletzt im Mai gesehen. Ein letztes Mal wollte ich ihm noch real nahe sein. Wann, wenn nicht heute, hätte ich noch einmal dazu Gelegenheit gehabt? Mit einer Mischung aus unsagbarer Angst und morbider Faszination näherte ich mich dem offenen Sarg und wunderte mich zunächst über das aufgeschwämmte Gesicht und das verletzte Ohr, während ich zeitgleich bewunderte, wie elegant er auf seinem Totenbett ruhte.

Ich kann nicht sagen warum ich das mache, was mich innerlich dazu antreibt, vielleicht weil ich um jeden Preis festzuhalten versuche, aber ich wollte ihn - wie damals meine Oma - fotografieren. Eigentlich wollte ich es heimlich realisieren, weil ich mit dieser Aktion auch niemand verletzen wollte, doch mein einer Onkel wich nicht von der Seite seines Vaters. Kurz bevor der Sarg geschlossen werden sollte und nur noch mein Onkel und ich in diesem Raum waren, sagte ich es ihm, worauf er mich gewähren ließ. Ganz ehrlich: Ich kam mir wie ein Paparazzo vor, doch ich bin froh, dass ich es getan habe, zumal diese Bilder natürlich nicht zur Schau gestellt werden. Ich habe ihn zwar nicht als Letzte lebend gesehen, dafür aber als Letzte im Leben fotografiert. Es muss absurd klingen, das zu lesen. Möglicherweise vielleicht sogar so, als ob ich irgendjemand etwas damit beweisen müsste, was natürlich Unsinn ist. Niemand muss jemandem etwas beweisen. Nicht in meinem Umfeld! Ihn anzufassen habe ich mich aber nicht mehr getraut, weswegen ich mich fast ein wenig schämte. Einige der Verwandten, so auch meine Ma, haben ihm noch mal über den Arm oder durchs Haar gestreichelt. Ich konnte das nicht. Vielleicht hätte ich mir dann eingebildet, dass der Tod an mir haftet. In dieser Hinsicht bin ich sowieso nicht bei klarem Verstand.

Die zweite Nacht nach seinem Tod verbrachte ich alleine. Den ganzen Tag über konnte ich mich ablenken, doch als ich dann mit meinen vier Kindern (Kuscheltieren) wie üblich eingeschlossen im Schlafzimmer im Bett lag, war der ganze Raum vom Tod erfüllt. Ich hatte das Gefühl, daran zu ersticken und einmal mehr die Nacht nicht zu überleben.

Wurde heute beerdigt: mein geliebter OpaBevor mein Opa zu Grabe getragen wurde, wurde in einer Kapelle auf dem Friedhof ein Gottesdienst zelebriert. Draußen war es bitterkalt. Wie einige andere hoffte ich, dass zumindest in der Kapelle etwas geheizt sei, doch vergebens. Ich saß nur wenige Meter vom Sarg entfernt und fand den Gedanken, dass sich darin mein Opa befinden soll, gänzlich befremdlich, obwohl vor dem Sarg ein Bild von ihm, das ich einmal gemacht hatte, stand. Richtig gehört habe ich die Pfarrerin eigentlich nur dann, wenn sie private Details aus dem Leben meines Opas erzählt hatte und als sie der Frage nachging, was nach dem Tod meines Opas bleibe, ja, was überhaupt nach dem Tod eines geliebten Menschen bleibe. „Was bleibt nach Dir?“, ging es mir durch den Kopf und „Wer würde deiner Beerdigung beiwohnen?“.
In typischer „Das-Wasserglas-ist-halbleer-Manier“ trieb mir die eigene Antwort darauf die Tränen ins Gesicht.

Das, was meinem Opa nach seinem Tod bleibt, ist unsere Liebe. Das, was uns, den Zurückgelassenen, bleibt ist die Erinnerung an ihn mit all ihren Facetten, die beispielsweise gleichermaßen seine Liebe beinhaltet.

Ich will das nachmittägliche Ereignis hier auch nicht zu weitschweifend erläutern, doch noch zwei kleine Begebenheiten, eine erschreckende und eine peinliche, erwähnen.

Als mein einer Onkel vor dem Grab seines Vaters stand, dachte ich für einen winzigen Moment tatsächlich, er springt jetzt ins Grab seiner Eltern. Ich hatte es kürzlich erst erwähnt. Seitdem Tod meiner Oma hat er jeglichen Lebenswillen verloren und sich nur noch auf deren Grabpflege und um die Fürsorge seines Vaters gekümmert. Er wird die Wohnung meiner Großeltern, seiner Eltern, weiter behalten. Das kann nicht gut gehen. Das sagen auch die anderen Verwandten, aber für Argumente und Gespräche ist er nicht zugänglich. Er wird künftig jedes Wochenende in die leere Wohnung seiner Eltern kommen. Wie viel Schmerz erträgt ein Mensch? Er hat sich so verändert in den letzten drei Jahren, seitdem sich sein neuer Freund „Alkohol“ an die Seite gesellte.

Peinlich, um nicht unendlich peinlich zu sagen, ist die Tatsache, dass ich bei Beerdigungen oftmals lachen muss, eigentlich oftmals bei Anlässen, die absolut nicht zum Lachen sind. Meiner Schwester geht es diesbezüglich nicht viel anders. Wenn man uns so sieht, muss man wirklich glauben, dass wir keinen Hauch an Anstand in uns haben oder komplett pietätslos sind, dabei platzt es wirklich völlig unkontrolliert aus uns heraus. Zum Glück hatten wir uns heute innerhalb der Gesellschaft soweit im Griff, dass uns das nicht passierte. Als wir aber als Nachzügler auf dem Weg von der Kapelle zum Grab waren, polterten einige Lachsalven völlig unkontrolliert aus uns raus. In solchen Momenten könnte ich vor Scham dann echt im Boden versinken.

Im Moment ist meine Mutter mit meinen beiden Onkeln beim Bestatter. Mein Onkel hat mich schon mehrfach auf dem Handy zu erreichen versucht, doch ich schaffe es nicht, ans Telefon zu gehen. Ich habe einfach Angst, dass mich deren Kummer erdrückt. Es mag egoistisch sein, aber ich muss und möchte irgendwie erst einmal selbst damit klarkommen. Gespürt habe ich diesen Impuls heute Morgen, als ich mit meiner Mutter gesprochen habe, die natürlich und verständlicherweise geweint hat. Ich mag mir da aber keine Blöße geben und wenn es noch so menschlich und mitfühlend ist. Was ich fühle, soll niemand sehen.

Es fällt mir relativ leicht, es (weitestgehend) anonym in meinen Blog oder via SMS kundzutun, was vermutlich daran liegt, weil hier noch die schützende Distanz zwischen Sender und Empfänger ist. Das Gleiche jemanden von Angesicht zu Angesicht mitzuteilen, fällt mir hingegen unglaublich schwer, ist meistens auch unmöglich. Selbst der Pan liest manchmal in meinem Blog, wenn er wissen möchte, wie es mir wirklich geht.

Ich vermute, dass die Beerdigung am Montag oder am Dienstag ist. Meine Mutter meinte heute Morgen, dass sie meinen Opa - als Mann des Berges - in seiner typischen Wanderkluft (Knickerbocker, grüne Kniestrümpfe, kariertem Hemd, Wanderschuhe und Hut mit Gamsbart) zu Grabe tragen lassen wollen. Es wäre ihm sicherlich Recht, wobei ich Angst habe, dass der Bestatter des Hutes wegen vielleicht Probleme macht.

Was Alex, meinen einen Onkel, der schon seit dem Tod meiner Oma absolut jegliche Lebensfreude verloren hat, betrifft, fürchte nicht nur ich, dass er sich nun tatsächlich das Leben nimmt. In der Nacht, als meine Oma damals ging, hat er sich einen ganzen Stapel ihrer Morphiumtabletten eingeworfen und wollte vom Balkon springen. Die letzte Nacht war meine Mutter, sein Bruder und eine Cousine bei ihm. Ich weiß nicht, was die Zukunft für ihn noch bereithält. Unter der Woche wohnt und arbeitet er 130 Kilometer entfernt. Er ist 50 Jahre, ohne eigene Familie, hat Zeit seines Lebens fast jedes Wochenende bei seinen Eltern verbracht. Eigentlich müsste er eine Therapie machen, aber das will er nicht. Zwingen kann ihn auch niemand. Genauso wenig wie ihn unter der Woche schützen. Nach dem Tod meiner Oma hat er sich komplett auf meinen Opa und die Grabpflege seiner Mutter fixiert. Er fühlte sich für meinen Opa verantwortlich, er wurde gebraucht, was ihm sicherlich auch ganz gut tat. Aber jetzt ist dieser Halt weggebrochen. Meine Mutter meinte heute Vormittag ebenfalls - ich äußerte meinen Gedanken des Suizids nicht -, dass sie sich diesbezüglich große Sorgen macht. Gestern hätte Alex auch schon wieder gesagt, dass er vom Balkon springen möchte.

Auch das, so grausam es klingt, würde mich inzwischen nicht mehr wundern. Vielleicht ist der Tod manchmal wirklich eine Erlösung – und das nicht nur für die, die vom Krebs oder anderen Krankheiten, in welcher Art auch immer, zerfressen sind? Nicht umsonst werden Menschen bei Operationen in Narkose versetzt, weil der Schlaf den Schmerz ausblendet. Vielleicht glauben oder hoffen jene, die des Lebens müde sind, mit ihrem selbst herbeigeführten Tod so etwas Ähnliches zu erreichen: dauerhaften Schlaf, der den Schmerz für immer tilgt.

Die Information, dass mein Opa gestorben ist, schwappt inzwischen wie eine immer wiederkehrende Welle vollen Kummers an den Strand meines Bewusstseins. Ich spüre aber auch, wie sie nach einer gewissen Zeit wieder zurückläuft, der Schmerz abebbt, vielleicht weil ich zu verdrängen suche, um nicht wahrzuhaben, was wahr ist. Vielleicht handelt es sich aber auch um einen gesunden Mechanismus, der - in der Regel - nur so viel Schmerz zulässt, dass der jeweils Fühlende nicht daran zerbricht. Ich weiß es nicht.

Gerade eben habe ich mich gefragt, wo mein Opa denn genau jetzt liegt. Klar, im Krankenhaus, aber wo? Im Kühlfach? Geht das so schnell? Vermutlich schon. Nein, ich sollte diese Gedanken nicht zulassen.

Nein, die Welt ist auch heute nicht stehen geblieben, bloß weil jemand aus meinem Familienkreis gestorben ist. Ich hatte mich schon damals bei meiner Oma gewundert. Gefühlt war mir so danach. Ich hätte es zumindest nicht für fragwürdig oder verwunderlich gehalten, aber in dieser Hinsicht ist das Leben gnadenlos. Andererseits sagt mir meine Vernunft natürlich auch, dass die Welt gar nicht mehr aus dem Stillstand herauskäme, wenn sie jedes Mal stehen bliebe, wenn jemand stirbt, dessen Verlust bei den Angehörigen eine riesige Lücke zurücklässt. Fakt ist, dass für uns, die Familie, seit dem Tod meiner Oma 2003 eine neue Zeitrechnung begonnen hat.

In den Fluten des mit den Gefühlen ringenden Meeres formiert sie, die Welle, sich schließlich neu, um mit aller Wucht auf das Ufer der Sprachlosigkeit zu peitschen.

Jetzt sind sie beide weg. Ich allein. Ohne Großeltern. Damit muss ich erstmal klarkommen. Ist er wirklich tot? Ganz tot? So endgültig, ohne Rückfahrschein ins Leben? Und wieder ist ein Stück prägendes und unersetzliches Ich aus mir herausgebrochen. Jetzt hilft mir nur noch mein Erinnerungsvermögen und Fotos, sich ihn zu mir zu holen. Ob er Schmerzen hatte? Ob er spürte, dass seine Kinder nur durch die Tür von ihm getrennt waren, während er einsam in den Händen der Ärzte starb? Ob er deswegen traurig war? Was mag ihm wohl durch den Kopf gegangen sein?

Mein Opa ist weg.

Dieser kurze Satz mag für die wenigsten von Bedeutung sein, für mich ist diese Welt jetzt aber nicht mehr so wie vorher. Es wird gewiss so gut wie niemand merken, aber für mich ist es auf diesem Planeten wieder ein Stück dunkler geworden. Ja, ich werde an seinem Tod nicht zerbrechen, das mag schon sein. Ich werde weiterleben. Irgendwie. Werde gewiss auch wieder lachen, aber das Opa-Licht, das meine eigene Dunkelheit in gewissen Ecken erleuchtete, wird für immer erloschen sein. Und ihn mittels einer anderen Glühbirne zu ersetzen, funktioniert nicht, da er seine ganz eigene und ganz besondere Fassung hatte.

Wo auch immer Du gerade sein magst, geliebter Opa, vielleicht hat Dich Oma heute Nachmittag an die Hand genommen und war da, als Du gegangen bist. Ich hoffe, dass es so war, denn das wäre ein tröstlicher Gedanke. Verzeih, dass ich gestern nicht feinfühlig genug war, den Ernst der Lage zu erkennen und alle Folgetermine habe sausen lassen, um Dich noch einmal leibhaftig zu sehen, zu sprechen und zu herzen. Ich bin so froh, dass Dir heute wenigstens noch Carmine hat mitteilen können, dass wir da waren und mir dein Weihnachtsgeschenk gefallen hat, obwohl ich so gerne selbst Danke gesagt hätte.

Du Opa: ich liebe Dich.

39 Jahre hat er mich durch mein Leben begleitet, heute Nachmittag ist mein Opa von uns gegangen. Angeschlagen war er ja schon eine ganze zeitlang. Wenn alles gut gegangen wäre, hätte er am 13. Januar die zwingend notwendige Herz-OP bekommen, die seit vorgestern – nach seiner dramatischen mitternächtlichen Einlieferung ins Krankenhaus, bei der sich der Notarzt für ihn „den Arsch aufgerissen hat“ (kaum zu glauben, dass ein Notarzt, wobei ich hier nur von diesem einen spreche, so etwas zu einem Patienten sagt, der nicht mit ins Krankenhaus möchte und seinem Ärger auch noch dadurch Ausdruck verleiht, dass er dem Patienten die mit Gummi befestigte Beatmungsmaske vom Gesicht nimmt und wieder zurückschnalzen lässt) - aber sowieso offen im Raum stand. Er war schwach. Sehr schwach. Verlor mit dem Stuhl viel Blut, so viel, dass er von der Toilette nicht mehr alleine aufstehen konnte. Der darauf hin mittags erschienene Hausarzt meinte lediglich, dass man das beobachten soll und wenn es morgen noch anhalten würde, müsse man ihn ins Krankenhaus einweisen. Nachts brach er dann völlig zusammen.

Ich getraue mich es kaum zu schreiben, weil ich fürchte, dass man mir die folgenden Zeilen nicht glaubt, vielleicht würde ich sie selbst nicht glauben, wenn ich sie anderweitig lesen würde. Da aber mein Bruder, meine Mutter und mein Onkel allesamt mit vor Ort waren und alle drei das gleiche sagen, es ja auch keinen Grund gibt, mich diesbezüglich zu belügen oder zu dramatisieren, wenngleich man vielleicht ungewollt dazu neigt, wenn man selbst emotional involviert ist, glaube ich deren Auskünften. Als sie zu dritt meinen Opa nicht mehr „aufpeppeln“ konnten, riefen sie nachts die Leitstelle (112) an. Der Mann am anderen Ende fing mit meinem Onkel erst einmal eine Grundsatzdiskussion über die Notwendigkeit eines nächtlichen Einsatzes an, was meine Mutter nach zwei Minuten dermaßen erboste, dass sie den Hörer in die Hand nahm, um endlich Hilfe zu erhalten, während mein Opa weiter nach Luft röchelte. Als auch sie nicht weiter kam, platzte meinen Bruder nach zwei weiteren Minuten Diskussion der Kragen. Er nahm den Hörer und schrie hinein, dass hier jemand gerade im Sterben liege und sie Hilfe bräuchten. Erst dann fragte der Mann am anderen Ende nach der Adresse. Rund vier Minuten später kam der Notarzt und dann der Krankenwagen. Das war in der Nacht vom 23. auf den 24. Dezember. Seitdem lag mein Opa auf der Intensivstation. Sein Problem mit dem Herz war die eine Geschichte. Die mit dem blutendem Darm die andere. In der ersten Nacht haben sie ihm acht Beutel Blut zugeführt, heute noch mal zwölf. Den Kampf mit dem Leben hat er trotzdem verloren.

Jemanden an Weihnachten, dem Fest der Liebe, zu verlieren, finde ich persönlich irgendwie noch schmerzlicher als an jedem anderen Tag im Jahr.

Am allerschlimmsten ist die Tatsache, dass wir, der Pan und ich, ihn gestern besuchen wollten. Im Krankenhaus 45 Minuten vor der Intensivstation warteten, dort nicht eingelassen wurden und just zu dem Zeitpunkt, als wir endlich zu ihm gekonnt hätten, gehen mussten, weil noch drei weitere Termine anstanden. Wenn ich auch nur geahnt hätte, wie schlimm es um ihn steht! Ich hatte die Stationsschwester sogar noch gefragt, wie es ihm gehe und ob er über Nacht stirbt, worauf sie sagte, dass er soweit stabil sei und er die Nacht überlebe, man andererseits natürlich nie eine Garantie geben könne bei älteren Menschen.

81 Jahre ist er geworden. Ich habe ihn zuletzt am Muttertag gesehen und mache mir bezüglich gestern große Vorwürfe. Andererseits stand ich innerlich total unter Druck. Mein einer Onkel, der das Essen für die Familie gekocht hatte, weigerte sich das Essen zu meinen Eltern (hier wollten wir zusammen feiern) vorzutragen, solange ich nicht bei ihm war und mich von ihm bescheren habe lassen. Geplant war das Essen bei meinen Eltern um 19 Uhr. Bis spätestens 18.30 Uhr musste ich bei meiner Schwester, die gestern auch noch Geburtstag hatte, sein. Die Gründe dafür näher zu erläutern, warum sie zum Beispiel abends nicht auch bei meinen Eltern ist, würde an dieser Stelle zu weit führen, die Kurzfassung lautet: sie lässt sich gerade scheiden und zieht diese Woche um. Also hetzten wir vom Krankenhaus zu meiner Schwester und von dort zu meinem Onkel, um im Anschluss zu meinen Eltern zu eilen, schließlich wollte ich nicht dafür verantwortlich sein, dass andere meinetwegen hungern müssen („Weihnachten fällt flach, wenn Du vorher nicht deine Geschenke abholst“, hieß es im Originalzitat), schließlich war das Essen ursprünglich um 17 Uhr angesetzt, durch den Krankenhausaufenthalt meines Opas aber nach hinten verschoben worden. Meine Laune war auf dem Nullpunkt.

Mein Bruder hat heute Mittag als einziger noch meinen Opa lebend gesehen. Als der Arzt ihm mitteilte, wie schlecht es um ihn stünde und er daraufhin meine beiden Onkel und meine Ma anrief, jene ins Krankenhaus hasteten, durften sie schon nicht mehr zu ihm, weil die Ärzte gerade mit seinem Leben kämpften. Danach war er tot!

Mein Bruder meinte vorhin, dass ich froh sein soll, dass ich meinen Opa die beiden letzten Tage nicht mehr gesehen hätte, weil ich ihn nicht mehr wieder erkannt hätte. So würde er weitestgehend vital in meiner Erinnerung fortleben. Ich hätte das aber gerne in Kauf genommen, um noch mal seine Hand zu halten, ihm zu zeigen, dass ich ihn lieb habe oder auch einfach nur, um ihm ein Küsschen zu geben. Jetzt werde ich dazu keine Gelegenheit mehr haben. Davon abgesehen sah meine vom Krebs gezeichnete Oma vor drei Jahren in ihren letzten Tagen auch überhaupt nicht mehr wie sie aus. Was an Erinnerung an sie bleibt, ist aber trotzdem ausnahmslos nur schön.

Was für ein grausames Weihnachten, über dem nun in alle Zukunft ein tödlicher Schatten liegt.

Ich weiß nicht warum, aber die Telefonate mit meiner Mutter ziehen mich stimmungsmäßig fast immer ausnahmslos runter. Möglicherweise liegt es an ihrem grundsätzlichen Pessimismus, bei dem ich mich dann meist genötigt sehe, sie wieder in eine zuversichtlichere Seelenlage zu versetzen, zumal ich ja nach wie vor fürchte, dass, wenn sie zuviel Negatives erfährt, ihr Krebs wiederkehrt, oder an ihrem Hang zur Dramatik, der für sie aber gefühlte Realität darstellt. Ich weiß, dass sie das nicht absichtlich macht, anstrengend ist es aber trotzdem. Fatal in dieser Hinsicht ist vor allem, ihre Unerreichbarkeit. Sie hat eine vorgefertigte, fatalistische Meinung, die weder durch stichhaltige noch sachliche Argumente getroster wird. Ich kämpfe und weiß, dass es doch vergebens ist. Manchmal gelingt es mir zwar, sie für eine kurze Weile zu beruhigen und ein klein wenig Hoffnung zu spenden, doch ich weiß um die sichere Wiederkehr ihrer Schwarzseherei – und das ist SEHR anstrengend, zumal ich selbst mit meinem Leben hadere.

Ehrlich gesagt finde ich die Gespräche mit meiner Mutter fast immer so folgenschwer und Kräfte raubend, dass ich nicht in der Lage bin, ihr 100 Prozent meiner Aufmerksamkeit zu schenken, was sich bestimmt roh und herzlos anhört, vermutlich auch ist, obwohl mich das, was sie sagt, thematisch NICHT langweilt. Um die Breitseite jedoch nur gedämpft – im Sinne des Eigenschutzes gemildert - abzubekommen, beschäftige ich mich während der Telefonate meistens mit noch etwas anderem, so dass die Informationen mich nur noch abgeschwächt und wie durch Watte gehört erreichen, wobei ich schon mit dieser abgemilderten Variante zu kämpfen habe.

In dem eben geführten Telefonat ging es um die anstehende Scheidung meiner Schwester, die nun leider – und da zitiere ich meinen Schwager – „zum Krieg“ ausartet. Meine Mutter fürchtet sogar um das Leben meiner Schwester. Mein Einwand „Frauenhaus“, der mir spontan als rettender Gedanke kam, verhallte jedoch im Leeren. „Bei uns (Kleinstadt) gibt es doch kein Frauenhaus“. Unausgesprochen hörte ich ferner: so etwas kannst Du deiner Schwester, einer erwachsenen Frau und ihrem Kind, nicht zumuten wollen.

Bin noch von Sinnen und kann das Gesagte des Telefonats noch gar nicht verarbeiten, geschweige denn fassen. Vermutlich werden sich die beiden wohl bald Gummistiefel zulegen müssen, um für die kommende Schlammschlacht geeignetes Schuhwerk zu haben. Das verflixte siebte Jahr haben sie überstanden, das achte brach ihnen schließlich das Genick, wobei das natürlich keine abrupte Entscheidung, sondern ein schleichender Prozess war.

Was mich richtig traurig stimmt, ist die Tatsache, dass mein Schwager Fabio, seinen 4-jährigen Sohn, jetzt komplett links liegen lässt, obwohl dieser ja wirklich gar nichts dafür kann. Er sagt ihm inzwischen noch nicht einmal mehr „Gute Nacht“.

Und selbst auf die arglose Frage: „Papa, spielst Du mit mir?“, bekam Fabio heute ein „verschwinde!“ zur Antwort, wobei Fabios Nachfrage, wo der Papa denn mit dem Motorrad hinwolle ein nicht minder kaltes „das geht Dich gar nichts an“ zu hören bekam. Was soll ich dazu noch sagen?

Bemerkenswert (und nicht minder traurig) finde ich im übrigen, dass der kleine Kerl zu einer solchen Aussage fähig ist: „Stimmt’s, Mama, wir beginnen jetzt ein neues Leben … ich freue mich darauf, denn dann kann der Papa uns nicht mehr so schimpfen“.

Ich möchte an dieser Stelle auch nicht ins Detail gehen, was mein Schwager pauschalierend über unsere „Psycho-Familie“ gesagt und was er meiner Schwester angetan hat, weil es sonst wie ein billiges Abrechnen im Sinne von einem öffentlichen Schlechtreden aussehen könnte, was es ja nicht sein soll, schließlich möchte ich hier nur niederschreiben dürfen, was mich bewegt. Fakt ist aber, dass mein Bruder darüber dermaßen erbost ist, dass er meinen Schwager „am liebsten das Fürchten lehren möchte“, um es mal geschönt zu artikulieren.

Wäre es nicht an Fabio gegangen, hätte meine Schwester wahrscheinlich, so sagte es mir zumindest meine Ma, noch so weiter gemacht, soll heißen, in den unseligen Verhältnissen weitergelebt, obwohl sie unglücklich war, da ihr das Wohl des Kindes, das in geordneten Verhältnissen aufwachsen sollte, über dem ihren stand.

Ein „ihr beide geht mir am Arsch vorbei“ und die Erkenntnis, dass Fabio inzwischen auch oftmals Angst vor seinem eigenen Vater hat, bestärkte jedoch - so meine Vermutung - den Entschluss zur Trennung, wobei natürlich noch zahllose andere dazu kommen.

Dass eine Scheidung selten (nie?) unproblematisch verläuft, ist gewiss unstrittig, zumal soviel Emotionen damit einhergehen, aber dass zwei einst Liebende so gar keine sachgefällige Ebene mehr finden, wobei ich – als persönlich nicht direkt Betroffene – natürlich mal wieder großspurig schwadronieren kann, finde ich doch beängstigend.

 

twoday.net AGB

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